25 Jahre Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer

Gedanken eines Wattführers

Der April hatte begonnen und brachte Südwind und warme Sonnenstrahlen, aber es fehlte nach dem strengen Winter noch das Blühende, das Duftende und Berauschende, und die Salzwiesen lagen wie jedes Frühjahr noch in schmucklosem Grau. Mich hatte wieder die Unruhe gepackt, denn das Wattenmeer zog mich magisch in seinen Bann. Die Luft ist erfüllt von Kiebitzrufen und von den eindringlichen Flötentönen des Brachvogels, Laute, die schwermütig ausklingen. Das friedlich schimmernde Watt ist umschwirrt und umkreischt von zahlreichen gefiederten Scharen, und am Blau des Aprilhimmels vermitteln große Keile ziehender Gänse ein melancholisches Fernwehgefühl. Der Anblick des weiten, in Farbe und Bewegung immer veränderlichen Meeres, der ruhigen Linie des Horizontes, des Wechsels zwischen Sonne und Wolken, Ebbe und Flut, prägt und wirft Empfinden und Nachdenken aus den Gewohnheiten des Alltags.

Werden und Vergehen, die Veränderlichkeit und der Kampf zwischen Naturgewalten und menschlichem Überlebenswillen. zeigt sich kaum irgendwo anschaulicher als im Küstenraum mit seinem vor gelagerten Wattenmeer. Der Eindruck dieses Dramas, die Hinlenkung der Gedanken in die Vergangenheit und ungewisse Zukunft mag wohl mit dazu beitragen, dass sich mein Handeln und Tun immer mehr dem Schutz des Wattenmeeres und der Sorge für dieses empfindliche Ökosystem widmen.

Warum gibt es keine Muschelbänke mehr im hohen Watt? Wo sich junge ansiedeln, sind sie nach ein-zwei Jahren verschwunden Strandkrabben überleben schon seit Jahren nicht mehr das Trockenfallen auf dem Eulitoral. Jungfische und vor allem Plattfische gab es vor Jahren noch reichlich in allen Wasser führenden Rinnen und Prielen, die wir durchwaten mussten. Die enorme Stickstoff- und Phosphateinleitung lassen jeden Sommer riesige Algenteppiche wuchern und es wird für mich als Wattführer immer beschwerlicher, diese zähen Ansammlungen zu meistern. Wie oft ärgere ich mich bei Wanderungen im Strandbereich und bei Spaziergängen im Deichvorland über Schiffsmüll und vielerlei Hinterlassenschaften unserer Zivilisation. Sie werden zum Hindernislauf über Kisten, Plastik jeglicher Art, Tauwerk, Glühbirnen und Seifenklumpen sowie Glasscherben und Dosen mit unbekanntem Inhalt. Der Anblick ist widerlich und abstoßend. Niemand fühlt sich für diese Müllberge zuständig. Ein Teil gammelt vor sich hin, anderes wird vom Flugsand zugedeckt und in den Boden eingearbeitet, bis die nächste Sturmflut es wieder freilegt.

Da ist einerseits die Auszeichnung zum Weltnaturerbe, andererseits der ausufernde Tourismus mit all seinen negativen Zeiterscheinungen und ein Verkehrsaufkommen, das in den Sommermonaten sowohl im Küstenbereich wie auch auf der Insel Norderney Angst und Bange macht. Für welchen Zweck hat man Reit- und Wanderwege mit Markierungspfosten gekennzeichnet, wenn doch viele sich darüber hinwegsetzen und eigene, verbotene Wege gehen? Warum tummeln sich Sonnenanbeter mit Kindern und Hunden auf Primär- und Sekundärdünen, benutzen ihre vegetationslose Deckschicht als Rutsch- und Liegefläche, obgleich schon diese Dünenabschnitte zur Kategorie Ruhezone zählen und als solche auch durch Hinweisschilder ausgewiesen sind? Warum werden die Salzwiesen, ein hochsensibler Lebensraum und ebenfalls zur Ruhezone gehörend, sternförmig durchwandert, durch dieses Verhalten brütende Vogelarten aufgescheucht und in ihrem Brutverhalten gestört? Und wie viele Spezialisten der Salzwiesenflora werden durch Tritte und gleichgültiges Verhalten beschädigt und zerstört? Diese Aufzählung ließe sich fast unbegrenzt fortsetzen, aber ich will es damit genug sein lassen.

Ich habe diesen einzigartigen Naturraum ins Herz geschlossen und verbringe soviel Zeit wie möglich in seinen verschiedenen Zonen. Jedoch können meines Erachtens die Belastungen und Bedrohungen dieses empfindlichen Systems nur eingegrenzt, gestoppt und beseitigt werden, wenn wir alle Kräfte bündeln und uns für den Erhalt dieses Naturerbes einsetzen. Dies ist nur mit einem geführten Tourismus und, auch wenn es für den einen oder anderen schmerzhaft sein wird, mit Kontrollen und ausgesprochenen Strafen durch Nationalparkwächter, sei es hauptberuflich oder ehrenamtlich, möglich. Nur durch solche Maßnahmen können wir verhindern, dass am Ende nicht sinnleere Schilder vor einer geschundenen Landschaft stehen.

Wenn der Mensch in ein so komplexes Natursystem wie dem des Wattenmeeres eingreift und die von der Natur vorgegebenen Grenzen missachtet oder nicht erkennen will, dann gerät es mehr oder weniger ins Wanken, unter Umständen verändert es sich sogar völlig. Gefährlich wird es dann, wenn menschliche Eingriffe zum Verschwinden und Absterben von Pflanzen und Tieren beitragen. Solche Entwicklungsbeispiele gibt es klein- und großräumig schon lange und mit solchen Eingriffen riskieren wir unsere eigene Existenz. Die Küstenregion und besonders das Wattenmeer sind überlastet, werden zu sehr übernutzt. Diese Veränderungen werden, angesichts der in der Müllkippe Nordsee lauernden Gefahr, für uns Küstenbewohner immer sichtbarer und bewusster, Die ständige Angst vor einer Havarie eines Tankschiffes aus dem gewaltigen Schiffsaufkommen in dem kleinen Randmeer Nordsee lastet wie ein Damoklesschwert über Küste und Wattenmeer. Jede Stunde gelangen aus Pipelinelecks und Ölplattformen ca. 30 Tonnen Rohöl ins Nordseewasser. Dazu reihen sich noch ca. 1600 Schiffswracks mit undefinierbarem Gefährdungspotential und eine Unmenge Kriegsmunition, die auf dem Nordseegrund vor sich hinrosten. Etwa 10 000 Kilometer Pipelines, von ca. 460 Seebauwerken gespeist, durchziehen das Nordseebecken wie ein weit geknüpftes Spinnennetz. Und zu alldem werden momentan in ein Verkehrstrennungssystem, das die Kollisionsgefahr von Tankern, Gefahrguttransport- und Containerschiffen mindern soll, gigantische Windkraftanlagen platziert.

Doch all diese negativen Gedanken verschwinden für gewisse Zeit, wenn ich die schönen Momente und Erlebnisse meines Wattläuferjahres Revue passieren lasse und nochmals in Gedanken meine Wanderungen durchlebe.

Ist es nicht voller Wunder, das Wattenmeer, das in ewigem Auf und Ab die Landschaft verändert? Du stehst da, fasziniert von diesem Geschehen, vergisst ganz die Zeit und wirst selbst ein Teil dieses Schauspiels. Ich kann mich dem Zauber des Wattenmeeres nicht entziehen, kann mich nicht satt sehen an der sich endlos dehnenden, feucht glänzenden Fläche, an manchen Tagen aufgewühlt, unbarmherzig und zerrissen. Für mich ist es ein großes Privileg, diesen einzigartigen Lebensraum hoffentlich noch lange betreten und genießen zu dürfen.

Wattführer Siegfried Knittel

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